"Jeder hat seine ganz eigene Neurodermitis" - Interview mit einem Neurodermitisexperten

Im Interview verrät der Neurodermitisexperte, welche neuen Therapien es gibt, wie er die Versorgungslage einschätzt und welche Rolle digitale Tools bei Neurodermitis spielen.
Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere an der Erkrankung Neurodermitis?
Ich weiß gar nicht, ob es etwas Besonderes ist, aber wir haben in den letzten Jahren zunehmend Erkenntnisse hinsichtlich der Pathogenese der Erkrankung erhalten und dies führt jetzt dazu, dass wir die Komplexität der Erkrankung besser verstehen. Insofern ist es „besonders“ zu wissen, dass es sich bei Neurodermitis (oder auch Dermatitis atopika) um eine chronisch-systemische Erkrankung, eine sogenannte Typ 2–Inflammation handelt. Da insgesamt eine atopische Disposition (auch Diathese genannt) zugrunde liegt –und damit auch ein genetischer Hintergrund–, ist es nicht verwunderlich, dass das Krankheitsbild ein sehr individuelles und –über alle Patienten gesehen– sehr heterogenes Erscheinungsbild aufweist. Man könnte laienhaft sagen, jeder Patient hat seine individuelle Neurodermitis, auch wenn es typische Erscheinungsformen und Prädilektionsstellen gibt; aber die Schwere der Erkrankung, damit auch die individuelle Krankheitslast, und die verschiedenen Begleiterkrankungen (Komorbidität) machen die Entwicklung individueller Behandlungsschemata aus ärztlicher Sicht so reizvoll. Zudem ist es ein sehr häufig vorkommendes Krankheitsbild, mit einer sehr unterschiedlichen Altersverteilung im Vergleich zu der in den letzten Jahren im Fokus stehenden Schuppenflechte, will sagen, dass wir auch noch einiges dazulernen müssen, was die Behandlung von Kleinkindern und Jugendlichen angeht.
“Man könnte laienhaft sagen, jeder Patient hat seine individuelle Neurodermitis, auch wenn es typische Erscheinungsformen und Prädilektionsstellen gibt…”
Wie schätzen Sie aktuell die Versorgungslage von Menschen mit Neurodermitis ein?
Wir haben über die letzten Jahre schon immer wieder versucht, Versorgungsdaten zur atopischen Dermatitis zu generieren, zum Teil über Befragung innerhalb der Fachgruppe (AtopicHealth-Befragungen), zum Teil über die Auswertung von Krankenkassen-Daten. Insgesamt muss man sagen, dass grundsätzlich sowohl die Versorgung derjenigen Patienten, die bereits in ärztlicher Versorgung stehen, im Hinblick auf die Leitlinienvorgaben z.T. verbesserungswürdig ist, insbesondere auf das Langzeit-Management auch von leichteren Krankheitsverläufen und die Nutzung von äußerlichen Kortison-Medikamenten, als auch, dass es immer noch einen großen Anteil nicht in der Versorgung befindlicher und/oder nicht leitliniengerecht-versorgter Neurodermitis Patienten gibt.
Dies liegt zum einen darin, dass bis vor wenigen Jahren fast keine tauglichen Langzeitmedikamente zur Verfügung standen und sich deshalb verständlicherweise auch viele schwer betroffene Patienten von der medizinischen Versorgung abgewendet haben. Hier geht es darum, zum Beispiel auch über Laien-Medienkampagnen, aber auch die Einbeziehung von Patienten-Organisationen und/oder Social Media Plattformen das Wissen um neue Therapieformen in die Breite zu tragen.
Welche Entwicklungen gab es in den letzten Jahren im Bereich der Neurodermitis-Therapie?
Hier ist vor allen Dingen die Entwicklung von modernen Langzeittherapeutika für mittelschwer und schwere Neurodermitis-Verläufe zu nennen. Außerdem haben wir vor gut einem Jahr als zusätzliche Option für Kurzzeitinterventionen die ambulante Baneo- Phototherapie in die Versorgung bekommen. Auf dem Boden dieser Neuentwicklungen sind zudem Aktualisierungen der deutschen und europäischen Leitlinie zu nennen, so wird aktuell die deutsche Leitlinie auf einen S3-Standard weiterentwickelt. Zudem gab es die Entwicklung eines praxisorientierten Behandlungsalgorithmus, was insgesamt eine bessere und einfachere Orientierung für die Behandlung der Neurodermitis ermöglicht.
Darüber hinaus konnte die Neurodermitis in einen Selektivvertrag zur Besonderen Versorgung (DermaOne) nach §140a SGB V rein verhandelt werden, was sowohl eine gute Orientierung hinsichtlich Wirtschaftlichkeit für die Kollegen:innen, als auch eine bessere Vergütung der aufwendigeren Versorgung dieser Patienten in der Praxis bringt.
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Warum ist es gerade bei Neurodermitis so wichtig, sich fachärztlich behandeln zu lassen?
Zunächst einmal müsste man sagen, dass es überhaupt wichtig ist, sich ärztlich behandeln zu lassen, denn bei der Neurodermitis handelt es sich eben um eine chronische Inflamation, auch mit der Gefahr des atopischen Marsches in Richtung zu Entwicklung weiterer Begleiterkrankungen. Hier gilt es durch eine entsprechende Therapie sowohl eine gute Krankheitskontrolle zu erzielen, als auch gegebenenfalls die Entwicklung von Komorbidität zu verhindern. Dies ist im Regelfall nicht durch eine Eigen-oder Laienbehandlung möglich. Für den Facharztstatus spricht letztlich natürlich, dass es in unserem Fach speziell entwickelte Leitlinien gibt, an der sich eine Therapie bzw. ein komplettes Krankheits-Management ausrichten sollte. Im Tagesgeschäft ist es sicherlich nicht unmöglich, aber im mitunter auch schwierig und nicht immer gegeben, dass eine solche Leitlinie nicht regelmäßig Beachtung in anderen Fachdisziplinen findet. Darüber hinaus sind insbesondere für die neu entwickelten Biologika und Januskinase-Inhibitoren, also die modernen Systemtherapeutika, gewisse Grundkenntnisse im Umgang mit diesen Substanzen und in der Auswahl des Patienten erforderlich und auch hier würde ich die Hautärztinnen und Hautärzte, also die Fachärzte, in einer besonderen Rolle sehen.
Sich ärztlich behandeln zu lassen ist wichtig, denn bei der Neurodermitis handelt es sich eben um eine chronische Inflamation, auch mit der Gefahr (…) weiterer Begleiterkrankungen.
Was ist ihre Empfehlung an Betroffene, die unter der Krankheit leiden und nicht in fachärztlicher Behandlung sind?
Nun, dies ist aus dem bisher gesagten relativ leicht abzuleiten: egal wie die bisherigen Erfahrungen mit Vorbehandlungen oder gar Vorbehandlern gewesen sein mögen, seit Kurzem haben wir eine Vielzahl moderner Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, die uns in die Lage versetzen, eine Neurodermitis ganz anders als noch vor fünf Jahren zu behandeln und dies nicht nur im akuten Schub, sondern mit einem Langzeit Therapieeffekt, der die Neurodermitis zwar nicht heilen, aber eben in Ausprägung und Intensität entsprechend deutlich reduzieren kann. Damit wird möglich, was bei chronischen Erkrankungen das Therapieziel sein muss, mit der Erkrankung möglichst beschwerdefrei seinen Alltag zu bestreiten.
…Seit Kurzem haben wir eine Vielzahl moderner Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, die uns in die Lage versetzen, eine Neurodermitis ganz anders als noch vor fünf Jahren zu behandeln…
Welche Rolle können digitale Tools wie OnlineDoctor in der Behandlung bei atopischer Dermatitis spielen?
Die Rolle einer teledermatologischen Applikation, wie sie mit OnlineDoctor besteht, sehe ich zum einen in der Möglichkeit, in akuten Erkrankungssituationen nicht nur einen fachlichen Rat für die weitere Behandlung, in manchen Fällen sogar für die Diagnosestellung zu erhalten, sondern durch die eben bei OnlineDoctor mögliche direkte Auswahl eines Kollegen aus der nahen Umgebung auch eine schnellere Anbindung an die Versorgungsebene zu erhalten. Was nutzt ansonsten ein Rat, wenn ich dann doch erst einen Arzt finden muss, der mich (kurzfristig) in eine Behandlung übernimmt. Insofern leistet OnlineDoctor auch eine Art Triagierung für dringliche Erkrankungsfälle.
Weiterhin wäre natürlich denkbar, dass auch zur Verlaufskontrolle diese Applikation genutzt werden kann und dadurch, bei gegebenenfalls zeitlichen Engpässen oder größeren Entfernungen zwischen Patient und Praxis, Zeit einzusparen und trotzdem eine Therapie und deren Ansprechen zu Monitorieren ist.